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Kantons-Bern gegen Bundes-Bern

Die Kantone mischen sich unverfroren in die Gesetzgebung des Bundes ein. Es werden neue Antennen auf den Dächern montiert, die nie ein Baubewilligungsverfahren gesehen haben. Korrekturfaktoren erlauben plötzlich zehnmal mehr Sendeleistung – das sei ja eine Bagatelle. Und jetzt sollen auch die Messungen abgeschafft werden. Stets sind die Neuerungen zugunsten von Swisscom etc., aber zu Ungunsten der Anwohner.

von André Masson
Langenthal 11.10.2023

Im Kanton Bern sollen nicht einmal mehr Wohnungen ausgemessen werden, deren Strahlungs-Prognose auf 4.95 V/m und 4.99 V/m lautet. Damit kann man nicht mehr sagen, ob die gesetzlichen Limiten erfüllt sind oder nicht – das ist eine krasse Verschlechterung der Lage. Ein Brief an das BAFU blieb vorerst einen Monat lang unbeantwortet, und auf die Nachfrage, ob eigentlich noch etwas komme, blieb es weiterhin stumm. Der Bund kann die angesprochenen Fragen nicht beantworten. Hier wird der Brief veröffentlicht, damit in anderen Kantonen – hoffentlich – eine andere Entwicklung eingeleitet wird!


Bild oben: Befindet sich etwa hier die Ablage für unerwünschte Korrespondenzen beim Bundesamt für Umwelt? Aufnahme gleich links neben dem Haupteingang des Hauptgebäudes in Ittigen.

An das Bundesamt für Umwelt
Herr Urs Walker, Abteilung Lärm und NIS
Herr Alexander Reichenbach Sektion NIS
Papiermühlestrasse 172
3063 Ittigen

Wertes BAFU,

Liegt die Bundeshauptstadt neuerdings im Ausland ?

Sie hüten
die Bundes-Spielregeln zur Mobilfunk-Gesetzgebung – aber die Kantone führen sie aus und schleifen sie andauernd zurecht nach eigenem Gusto. Der Kanton Bern hat eine Praxis begonnen, die nicht mehr haltbar ist und den Bundesregeln inkl. den neuesten Urteilen des Bundesgerichtes widerspricht. Es scheint, dass Bern (Kanton) sich von Bern (Bund) etwas losgelöst hat. Da nichts anderes mehr übrigbleibt, möchte ich Ihnen dies schildern und Sie bitten, denen in Bern unten stärker auf die Finger zu schauen und sie zur Bundes-Treue zu ermahnen.

Es geht darum, dass die Mobilfunkfirmen die gesetzlichen Limiten bis an die Schmerzgrenze ausreizen und sich um Unsicherheiten und mögliche Störgrössen nicht kümmern. Während sie früher bis zu 99% der Limite gegangen sind, finden sich heute rechnerische Prognosen von 99.8% der Limiten, z.B. 4.99 V/m statt der erlaubten 5 V/m. Nun ist die Spannweite zur bis zur Illegalität äusserst gering geworden. Bereits geringste Reflexionen irgendwo in der Umgebung kippen den Wert ins Illegale – aber dafür interessiert man sich im Kanton Bern nicht.

Nörgeln die Antennen-Gegner, die Reflexionen würden im Bewilligungsverfahren nirgends berücksichtigt, so hält das Bundesgericht im Urteil 1C_100/2021 vom 14.2.2023 in den Punkten 7.2.1. bis 7.2.4 fest (weitgehend wird die BAFU-Stellungnahme wiederholt, 80% als Schwelle für Messungen seien angemessen): das kommt ja dann bei den Messungen aus! Und gerade diese Messungen werden jetzt mehrheitlich ausgesetzt im Kanton Bern. Das ist ein logischer Bocksprung, das geht nicht mehr auf. Ich bitte Sie, das genau anzuschauen, und den ausführenden Kantons-Behörden Ihre Vorstellungen einer widerspruchsfreien Gesetzgebung in Erinnerung zu rufen. Vorsicht: Berner Schädel sind oft dick und hart, Sie müssen laut und klar rufen, sonst nützt das nichts.

Begonnen hat es bei der Antenne Wuhrgasse 21 in Langenthal, Swisscom, bei der diese kantonale Mess-Aversion zum ersten Mal aufgefallen ist. Seither sind mehrere Antennen in Langenthal ausgeschrieben worden: Waldhofstrasse, Bahnhof, Zürich-Bern-Strasse neben Aggarwal, und die neueste jetzt (schon wieder, wie gerade neulich) bei der KADI AG, Thunstettenstrasse. Überall dasselbe: Nur ganz wenige oder gar keine Messungen werden verlangt. So etwa beim neuesten Projekt bei der KADI: An 12 Standorten lauten die Prognosen auf mehr als 4 V/m, müssten also gemessen werden. Der Kanton will nur deren zwei gemessen haben. Orte mit Prognose-Werten 4.95 V/m, 4.97 V/m und 4.99 V/m bleiben ungemessen.

Es braucht nur noch ganz geringe Reflexionen von irgendwoher (und die gibt es immer, schon im eigenen Haus), und die Anlage wird unerkannt illegal: Dächer, Fassaden, Heizkörper im eigenen Raum, Lamellenstoren, grosse Fabrikanlagen im Inneren der KADI AG, das grosse Vordach vor der Porzellanfabrik wenn es nass ist, grossen Fensterflächen, etc. usw. Bisher galt immer: es kommt dann bei der Messung aus. Jetzt schaut man gar nicht mehr hin – man will nicht mehr feststellen, ob die Anlage gesetzeskonform ist oder nicht. Das ist ein folgenschwerer Schritt: von der Gewissheit zum feuchten Finger im Wind.

Bedenklich und unpassend ist die Meinung des Kantons, die Reflexionen würden bereits berücksichtigt, weil steil unter der Antenne oder in Rückwärtsrichtung die Dämpfung nicht über 15 dB gesetzt werden dürfe. Die Orte, an denen nicht gemessen wird trotz hoher Prog­nose, liegen aber nicht steil unter der Antenne, sondern auch nahe beim Hauptstrahl. Selbst­verständlich bewirkt auch der starke Hauptstrahl Reflexionen – und die können den berechneten Wert von 4.99 V/m auf z.B. 5.09 V/m anheben. Ohne Messung merkt das niemand.

«Aber so ziehen Sie es doch weiter! Dazu haben wir die Rechtsmittel ja»

In einer Woche endet die Frist, in der ich die unhaltbaren Punkte an die nächste Instanz weiterziehen könnte. Das geht nicht mehr, zumal ich bereits früher erlebt habe, wie Kantons-Juristen – blind für technische Sachen – damals geurteilt haben. Es ging um die Behauptung der kantonalen Fachstelle, bei einer speziellen Doppel-Antenne in Langenthal: «Es gibt keine Seitensteuerung». Mit einer Seitensteuerung, wie sie heute bei fast allen Stationen ganz normal ist, wären die Limiten an einem OMEN verletzt worden.

Es war neu damals – es gab bisher noch keine Seitensteuerungen. Der kantonale Herr schaute nur rückwärts, nicht vorwärts. Hätte er sich – bei allen erhaltenen Erklärungen! – entschuldigt, er hätte sich vertan, oder er hätte das verschlafen, wäre das erledigt gewesen.

Die Fachstelle hat das falsch beurteilt – und sie berät hintereinander gleich drei Instanzen! Zuerst diktiert sie der Gemeinde in die Feder, später der Baudirektion, dann nochmals dem Verwaltungsgericht. Wir haben nicht drei unabhängige Instanzen, die einen Fall hintereinander beurteilen, sondern nur eine einzige, und wenn die sich täuscht, wird es eng. Das veraltete, klar falsche Wissen des offiziellen Fachmannes «es gibt keine Seitensteuerung» hat mich über Fr. 5’000.- gekostet (Kantons-Spruch plus Jurist der Gegenseite).

Jetzt das nochmals ? Jedermann kann lesen, was im Bundesgerichts-Urteil steht: «Wenn es Reflexionen geben sollte, kommt das bei den Messungen aus». Nochmals gerichtlich und juristisch verlangen, was bereits fertig gedruckt vorliegt ? Wieder mit garantierter Gegenrede der Kantons-Fachstelle, die Messungen seien trotzdem nicht nötig ? Das ist einfach unwürdig, ich kann solchen Tiefpunkt nicht nochmals mitmachen. Die Kantons-Juristen halten sich im Zweifelsfalle genau wie die Stadt-Behörden brav an den vorgeschriebe­nen Weg. Die Stadt Langenthal hat meine Zustellung des Steffisburger-Urteils «zu den Akten genommen»; dann hatten sie bis zur Erteilung der Baubewilligung gut 16 Wochen Zeit – aber kein halbes Wort zur Rüge gefunden, dass die Nicht-Messungen dem neuen BG-Urteil von Steffisburg widersprechen. Das ist doch sehr mager. «Lesen» wäre besser gewesen als zu den Akten legen.

Wertes BAFU, ich bitte Sie um drei Dinge:

Erstens: Schreiben Sie bitte von Bern nach Bern, dass Bern auch unter der Bundes-Gesetzgebung steht, dass BG-Urteile auch in Bern zu lesen seien. Werden diese Urteile missachtet oder aufgehoben oder als unwichtig erklärt, so ist das mindestens zu begründen. Sonst ist der Schluss zwingend, dass man sich im Kanton Bern nicht mehr dafür interessiert, ob die Limiten eingehalten werden oder nicht. Fordern Sie bitte die vorgesehenen Messungen ein, welche bei Reflexionen zeigen, ob die Gesetze eingehalten sind oder nicht. Und senden Sie mir bitte eine Kopie dieses Schreibens nach Bern.

Zweitens: Prüfen Sie bitte, ob nicht in einer frühen Phase zu entscheiden wäre, gewisse Rügen im Zusammenhang mit der Mobilfunktechnik eher einem technischen Gericht vorzulegen statt einem juristischen (oder ev. beiden). Sowohl die Fragen rings um die Reflexionen wie auch die einstige Frage zur Seitensteuerung (die heute ganz obsolet und sonnenklar ist) sind nicht allein durch Juristen zu beurteilen – solange das Kantons-Amt in drei nacheinander folgenden Instanzen das alleinige, unumschränkte technische Sagen hat. Es muss ein Gegengewicht geben, eine Instanz mit genügend Fachwissen, welche die Berner-Auslegung mit den Bundes-Regeln und mit den technischen Fakten vergleicht. Vor einem technischen Gericht hätte die Bernische Fachstelle viel mehr Mühe, die fehlenden Messungen, die Unmöglichkeit der Seitensteuerung oder die unpassenden Hinweise auf die 15 dB-Regel zu rechtfertigen.

Drittens: Prüfen Sie bitte, ob diese ganze «Millimeter-Arbeit», dieses präzise Zielen bis zu Bruchteils-Prozenten unter den Limiten nicht viel zu viel Aufwand, Ärger und unnötige Arbeits­stunden bewirkt. Die Messungen sind ja ohnehin nicht genau – wie wollen Sie mit 40% Messunsicherheit entscheiden, ob sich 99.8 % wirklich von 100% unterscheiden? Die bisherigen Messungen sind auch deshalb ein Witz, weil die Mobilfunker direkt beteiligt sind – und dann jede beliebige Sendeleistung einstellen können, wie sie wollen. Das hat doch keinen Wert! Die ganze Sache muss robuster, einfacher und zuverlässiger werden.

Reduzieren Sie die rechnerische Limite bei den zukünftigen Projekten auf 4.1 V/m statt 5V/m, dann haben Sie bis zu den bisherigen 5 V/m noch einen Spielraum von einem Drittel in der Leistungsflussdichte, welche als Reservepolster für die Reflexionen zur Verfügung steht, die es immer gibt. Und dann beenden Sie alle Messungen in den Wohnungen. Sie führen nur noch – endlich – eine kontinuierliche Überwachung der abgestrahlten Sendeleistung ein (1 x im Tag reicht nie und nimmer), aber Sie verzichten im Normalfall auf jede Messung, ob der Anlagegrenzwert in Wohnungen und Arbeitsplätzen eingehalten sei. Zur Beruhigung der verunsicherten Anwohner verlangen Sie die angedeutete, aber meines Wissens nie erfolgte Publikation der Feldstärkekarten, damit sich nachvollziehen lässt, welche Häuser wieso berechnet wurden – oder eben nicht.

In seltenen Spezialfällen kann noch eine Messung nötig sein: Wenn z.B. ein besonders belastetes Haus ohne Fenster gegen die Antenne als mit «Betonmauer» angegeben wird, der Sender deshalb sehr stark gemacht wird – und alle anderen Häuser mit Fenstern stehen viel weiter weg oder nicht in belasteten Sektoren. Hier müsste man mit Messungen feststellen, ob die angenommene Betondämpfung zulässig war, ob das nicht Naturbruchstein war oder sonstige Öffnungen vorhanden sind. Auch die Einhaltung des Immissions-Grenzwertes muss noch möglich sein, aber das ist ja viel seltener – vorläufig.

Mit freundlichen Grüssen,
A. Masson

Geht zur Kenntnis an Stadtpräsident Reto Müller, Amtsvorsteher AUE Ulrich Nyffenegger, Immissionsschutz-Vorsteher Hans-Peter Tschirren.

Von Hans-U. Jakob

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