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Tabakfirmen unterwandern WHO. Aus Tagesanzeiger vom 3.08.2000

Tages Anzeiger Zürich
3.8.2000

Renomierteste Schweizer-Zeitung

Tabakfirmen unterwanderten WHO

Tabakfirmen haben jahrelang systematisch versucht, die Weltgesundheitsorganisation
(WHO) zu schwächen. Gekaufte Experten halfen dabei.

Von Victor Breu, New York

Thomas Zeltner, der Direktor des Bundesamtes für Gesundheit, gebrauchte starke
Worte für brisante Vorwürfe: „Es ist schockierend, in welchem Ausmass die
Tabakindustrie aktiv geworden ist, um eine Uno-Organisation anzugreifen.“

Zeltner präsentierte am Mittwoch in Genf einen 245-seitigen Bericht, der zeigt,
wie Philip Morris und andere Zigarettenhersteller die Kontrollbemühungen der
Weltgesundheitsorganisation beeinflusst, ja gezielt untergraben hätten. Eine
Expertenkommission unter Zeltners Leitung hatte Dokumente gesichtet, welche die
Tabakmultis in den USA hatten offen legen müssen.

Die Unterlagen zeigen, dass die Konzerne in der WHO eine mächtige Bedrohung sahen.
Sie versuchten daher, wissenschaftliche WHO-Studien über Tabak zu beeinflussen, die
WHO selbst zu diskreditieren und deren Budget zu beschneiden. Die Tabakkonzerne
platzierten mindestens einen bezahlten Berater im amerikanischen Zweig der WHO, der prompt
versuchte, den Kampf gegen Tabakmissbrauch zu einer wenig vordringlichen Aufgabe zu
erklären. Mehrere Experten im Sold der WHO nahmen auch Forschungsgelder der
Tabakmultis entgegen. Schliesslich versuchten die Konzerne, in Entwicklungsländern
gegen das Anti-Tabak-Programm der Weltgesundheitsorganisation Stimmung zu machen.

Die Tabakkonzerne bestreiten die Vorwürfe nicht. Sie verweisen jedoch darauf, dass
ihre Kampagne mehr als zehn Jahre zurückliege. Inzwischen hätten sie die Praxis
geändert, habe der damalige Geist der Konfrontation einem der Zusammenarbeit Platz
gemacht. Die WHO schlage jetzt die Trommeln, da sie im Oktober Verhandlungen für das
erste internationale Abkommen zur Begrenzung des Tabakkonsums und des Verbots von
Tabakwerbung lanciere.

„Berater“ in die WHO eingeschleust

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) wirft Tabakriesen wie Philip Morris vor, sie
hätten jahrelang gezielt ihre Gesundheitsprogramme untergraben und
WHO-Wissenschaftler bestochen.

Von Victor Breu, New York

Ende 1988 versammelten sich Spitzenmanager von Philip Morris in Boca Raton in Florida.
Unter der Leitung von Geoffrey Bible, dem heutigen Konzernchef, identifizierten sie 26
„Bedrohungen“ für die Tabakindustrie. Feind Nummer eins: die WHO mit Sitz in Genf.
Diese Uno-Unterorganisation habe „einen ausserordentlichen Einfluss auf Regierungen und
Konsumenten“, befand Bible. „Wir müssen einen Weg finden, diesen Einfluss zu
mindern.“ Und so brachten die Manager den „Boca Raton Action Plan“ zu Papier, eine breite
Strategie, wie weltweit gegen Antiraucher-Bemühungen vorzugehen sei.

30 Millionen zuvor unter Verschluss gehaltene Dokumente hatten die Tabakkonzerne
veröffentlichen müssen, um in den Sammelklagen der US-Bundesstaaten einen
Vergleich zu erhalten. Nach den Amerikanern hat auch eine unabhängige Expertengruppe
der Weltgesundheitsorganisation – unter dem Präsidium des Direktors des Bundesamtes
für Gesundheit, Thomas Zeltner – das Material durchforstet. Am Mittwoch stellte sie
in Genf ihren 245-seitigen Bericht vor.

WHO „systematisch diskreditiert“

Die WHO erhebt schwere Vorwürfe. Die Tabakkonzerne hätten „einen
systematischen Effort“ geleistet, um die WHO zu „unterminieren“ und zu „diskreditieren“.
Die Firmen hätten von ihnen bezahlte Wissenschaftler und Berater in WHO-Gremien
platziert, um „die Resultate wichtiger wissenschaftlicher Tabakstudien zu
verfälschen“. Ausserdem hätten sie durch massives Lobbying versucht, das Budget
der Gesundheitsorganisation zu beschneiden.

Überrascht von der Raffinesse

„Nun ist das Ausmass und die taktische Intensität der Kampagne der Tabakindustrie
klar“, erklärte Zeltner am Mittwoch in mehreren US-Zeitungen, denen er Vorabdrucke
und Kommentare hatte zukommen lassen, bevor die WHO die Studie in Genf präsentierte.
„Überraschend ist, wie ausgeklügelt und gut finanziert die Aktionen waren.“

Bezahlte Experten

Wie die Tabakindustrie Entscheide des WHO direkt zu beeinflussen oder die
Integrität der Organisation zu diskreditieren versuchte, illustriert das Beispiel von
Paul Dietrich. Der Anwalt und Direktor des Institute for International Health and
Development war in Boca Raton dabei. Danach schrieb er Meinungsartikel in renommierten
Zeitungen im In- und Ausland, die die WHO attackierten. Gleichzeitig waren er und sein
Institut bezahlte Berater von Tabakkonzernen. 1990 wurde er in ein Komitee der American
Health Organization gewählt, des regionalen Arms der WHO.

Dort versuchte Dietrich, das Thema Tabakprävention in der Prioritätenliste
der Agentur nach hinten zu befördern. Auch in anderen dokumentierten Fällen
wurden Experten, die als Berater der WHO arbeiteten, von der Tabakindustrie bezahlt.

Ein Sprecher von Philip Morris erklärte, heute würden keine WHO-Initiativen
gegen das Rauchen mehr beeinflusst. Die Vorwürfe beträfen eine vergangene Zeit,
die Firma habe ihre Geschäftspraxis geändert. „Die frühere Strategie war
eine Folge einer polarisierten Umwelt. Wir bedauern sie.“ Ein Sprecher von
British-American Tobacco war weniger diplomatisch: „Es ist traurig, dass nun auch die WHO
der Obsession von Klägeranwälten für alte Dokumente erlegen ist.“

Der Trommelwirbel der WHO ist seinerseits taktisch zu verstehen. Deren
Generaldirektorin, Gro Harlem Brundtland, hat die Kontrolle von Tabak zu erster
Priorität erklärt. Die Norwegerin drängt auf ein globales Abkommen, in dem
harte Limiten für Tabak-Werbung und -Marketing gesetzt würden. Auch Fragen der
Besteuerung, des Schmuggels und der Alternativen für Tabakpflanzer wären
angeschnitten. Im Oktober sollen die Verhandlungen zu diesem internationalen Tabakvertrag
starten.

Von Hans-U. Jakob

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